Fibromyalgie
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Nach Schätzungen sind in Europa und Nordamerika etwa 0,5 bis 5,8 % der Bevölkerung vom Fibromyalgiesyndrom betroffen.[1] In Deutschland erfüllten 2013 rund 2 % der Bevölkerung die Forschungskriterien des Fibromyalgiesyndroms, wobei das Geschlechterverhältnis ausgeglichen war. Unter den Patienten, die wegen Fibromyalgie behandelt werden, dominieren aber Frauen: über 80 % der Patienten sind Frauen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren.[2]
Es gibt nicht eine Ursache, die zur Entstehung eines Fibromyalgiesyndroms führt. Wahrscheinlich führt eine Kombination aus genetischer Veranlagung und verschiedenen psychischen, sozialen und biologischen Einflüssen zu der Krankheit.
- Da Fibromyalgie familiär gehäuft auftritt, sind genetische Mitursachen anzunehmen. Im Verdacht stehen verschiedene Gene, die am Hirnstoffwechsel beteiligt sind, insbesondere bei den Botenstoffen Serotonin, Dopamin und den Katecholaminen. Allerdings sind diese Genvarianten nicht spezifisch für die Fibromyalgie.[3]
- Lebensstil: Rauchen, Übergewicht und mangelnde körperliche Aktivität
- psychische Faktoren: Erfahrung sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt in der Kindheit, sowie sexueller Gewalt im Erwachsenenalter
- depressive Störungen
Für die einzelnen Faktoren ist nicht klar, inwieweit sie ursächlich mit der Entstehung der Krankheit in Verbindung stehen.[4]
Als Hauptfaktor in der Entstehung der Fibromyalgie wird nervliche Sensitivierung (Sensibilisierung), einschließlich zentraler Sensitivierung, angesehen.[5] Das bedeutet, dass die Schmerzverarbeitung im Zentralen Nervensystem so gestört ist, dass das Gehirn Schmerzen wahrnimmt, ohne dass ein schädigender Reiz vorliegt, und dass die Schmerzschwelle sinkt, wodurch normalerweise nicht schmerzhafte Reize als schmerzhaft wahrgenommen werden. Diese Annahme beruht auf verschiedenen pathophysiologischen Befunden:
So wurden bei Patienten mit einer Fibromyalgie unter anderem im Nervenwasser erniedrigte Spiegel von Serotonin-Stoffwechselprodukten festgestellt. Neben Serotonin wird auch die Rolle anderer Hormone und Neurotransmitter wie beispielsweise Substanz P oder das Wachstumshormon Somatotropin in der Entstehung der Fibromyalgie untersucht.
Gewebe-Studien des Unterhaut-Bindegewebes bei Fibromyalgie-Patienten deuten auf eine veränderte Anzahl und Komposition der sensorischen Nervenendigungen in dieser Gewebeschicht hin. So scheint die Anzahl der freien Nervenendigungen im Allgemeinen gegenüber Normalpatienten deutlich verringert zu sein. Gleichzeitig ist eine spezielle Kategorie dieser Nervenendigungen besonders zahlreich vorhanden. Hierbei handelt es sich um solche, die mit der Regulation der Durchblutung des Unterhaut-Bindegewebes in Zusammenhang stehen und die sich in der Nähe der sogenannten arteriole-venule shunts (AVS) befinden. Diese Shunts sind kleine Gefäßverbindungen zwischen Arteriolen und Venolen und ermöglichen eine Regulation der Körpertemperatur in dieser Gewebeschicht. Es wird vermutet, dass die häufig beobachteten Störungen in der Temperatur-Empfindung von Fibromyalgie-Patienten mit dieser veränderten Innervation des Unterhaut-Bindegewebes im Zusammenhang stehen.[6][7]
Im Zentrum des Syndroms stehen chronische, also über mehrere Monate bestehende Schmerzen in mehreren Körperregionen, ein gestörter oder nicht erholsamer Schlaf und Müdigkeit bzw. vermehrte Erschöpfbarkeit.[8] Eine Studie der Deutschen Fibromyalgievereinigung ergab als häufigste Beschwerden Gelenk- und Muskelschmerzen an wechselnden Orten sowie Rückenschmerzen, Morgensteifigkeit, „Zerschlagenheit“ und das Gefühl, schlecht geschlafen zu haben am Morgen, sowie Müdigkeit, geringe Leistungsfähigkeit, Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit.[9]
Das Fibromyalgiesyndrom geht häufig mit einer Depression einher. Zwischen 62 und 86 Prozent der Patienten zeigen im Laufe ihres Lebens Anzeichen einer Depression.[10] Insbesondere bei den berichteten kognitiven Einschränkungen (wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen) ist unklar, inwieweit sie auf Depressionen, Ängste oder unerwünschte Wirkungen im Zentralen Nervensystem wirkender Medikamente zurückzuführen sind.[11]
Der Erkrankungsbeginn ist häufig schleichend und unauffällig. Am Anfang stehen meistens unspezifische Befunde wie Abgeschlagenheit, Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerden. Später kommen Schmerzen im Bereich der Lenden- oder – etwas seltener – der Halswirbelsäule hinzu. Erst danach entwickeln sich die typischen Schmerzen in Armen und Beinen sowie weitere begleitende Symptome und Beschwerden. In der Regel verschlimmert sich die Krankheit nicht kontinuierlich. Heftige Schmerzattacken werden von schmerzfreien Intervallen abgelöst. Kälte, Nässe oder äußere Belastungen, auch starke Sonneneinstrahlung, können zur Verschlimmerung führen. Bis sich das Vollbild der Erkrankung herausgebildet hat, dauert es durchschnittlich sieben bis acht Jahre. Die einzelnen Schübe und akuten Phasen folgen keinem bestimmten Muster und sind deshalb nur schwer vorherzusehen, jedoch treten sie besonders häufig nach akuten Infektionskrankheiten auf (Grippe, Lungenentzündung, Lyme-Borreliose o. ä.). Stress ist jedoch ebenfalls ein ernstzunehmender Faktor. Viele Betroffene klagen über vermehrte Symptome (körperlich sowie psychisch), nachdem sie Stress hatten. Hierbei ist es egal, ob es „positiver Stress“ oder „negativer Stress“ ist. Aus diesem Grund ist auch Stabilität für Betroffene äußerst wichtig.
Zu einer krankheitsbedingten Zerstörung der Knochen – wie etwa bei einer rheumatoiden Arthritis – kommt es durch die Fibromyalgie selbst in der Regel nicht, jedoch kann die teilweise massive Bewegungseinschränkung zu Kapselschrumpfungen und anderen irreparablen Folgen im Gelenkapparat führen. Dies ist allerdings selten.
Die Diagnose einer Fibromyalgie gestaltet sich recht schwierig, da sowohl Röntgenbilder als auch Laborwerte keinen eindeutigen Aufschluss geben, aber zum Ausschluss wichtiger Differentialdiagnosen hilfreich sind. Die Diagnosestellung beruht daher auf den Befunden der körperlichen Untersuchung und der Befragung der Patienten (Anamnese).
Vor der Diagnosestellung des Fibromyalgiesyndroms müssen einige Krankheiten ausgeschlossen werden, die ähnliche Symptome wie die Fibromyalgie hervorrufen. Einige davon, insbesondere die entzündlichen rheumatischen Erkrankungen, gehen oft gleichzeitig mit einem Fibromyalgiesyndrom einher oder ihm voraus. Die folgenden Differentialdiagnosen können in Betracht kommen (Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit).[12]
- systemische entzündliche Erkrankungen
- Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew)
- Entzündungen der Muskeln: Polymyositis, Dermatomyositis
- Infektionen
- Hormonelle Störungen
- selten: Fluorchinolon-induziertes chronisches Syndrom (auch bekannt als Fluoroquinolone-Associated Disability (FQAD)).[13]
Ergeben sich aus der Anamnese und der körperlichen Untersuchung Hinweise auf das Vorliegen einer der oben genannten Differentialdiagnosen, können durch eine zielgerichtete Untersuchung des Blutes weitere Erkenntnisse gewonnen werden, etwa durch Bestimmung von Hormonen und Entzündungsparametern. Erhöhte Entzündungswerte im Blut (Blutsenkungsreaktion, C-reaktives Protein) sprechen beispielsweise für eine entzündliche Erkrankung – da die Fibromyalgie keine entzündliche Erkrankung ist, wären hier keine Auffälligkeiten zu erwarten. Weitere Untersuchungen sollten sich nach der vermuteten Krankheit richten, eine wahllose Bestimmung aller möglichen Laborwerte ist nicht empfehlenswert, da Marker, die auf bestimmte Erkrankungen hindeuten (wie beispielsweise Antinukleäre Antikörper oder Rheumafaktoren) auch bei Personen positiv ausfallen, die überhaupt nicht an einer solchen Erkrankung leiden, wodurch die Diagnose in die falsche Richtung gelenkt werden kann.[14]
1990 legte das American College of Rheumatology (ACR) erstmals Kriterien vor, die die Diagnose der Fibromyalgie erleichtern sollten. Berücksichtigt wurden alleine die Schmerzen: der Betroffene musste von ausgebreiteten, andauernden Schmerzen in mehreren Körperregionen berichten. Zudem definierte das ACR 18 „tender points“, Druckpunkte also, die bei Fibromyalgie typischerweise schmerzhaft sein können. Bei der körperlichen Untersuchung müssen nach den Kriterien von 1990 mindestens 11 der 18 „tender points“ empfindlich sein. Die Einführung der Kriterien wurde in der Fachwelt zwar begrüßt, sie stießen in der Praxis jedoch an Grenzen. In der medizinischen Grundversorgung wurden die „tender points“ oft nicht untersucht, weil die Ärzte ihre Diagnose lieber an den anderen Symptomen orientierten, oder die Untersuchung der „tender points“ wurde falsch durchgeführt, was zu falschen Diagnosen führte. Ein weiterer Schwachpunkt der Kriterien trat bei Patienten zutage, deren Leiden sich besserte. Bei diesen konnte die Diagnose Fibromyalgie nicht aufrecht erhalten werden, wenn im Verlauf weniger als 11 „tender points“ schmerzhaft waren.[15]
Im Licht der Schwächen des „tender points“-Konzeptes veröffentliche das ACR 2010 neue Kriterien, die ohne die Untersuchung der „tender points“ auskommen und stattdessen auf der Erhebung der anderen Kern- und Begleitsymptome beruhen. Dabei wird durch Befragung des Patienten die Anzahl schmerzhafter Körperregionen ermittelt und ein Index zwischen 0 und 9 gebildet („widespread pain index“, WPI). Danach wird die Symptomschwere ermittelt („severity scale“, SS): Den anderen drei Hauptsymptomen (Erschöpfungszustände, nicht erholsamer Schlaf und kognitive Einschränkungen) werden zur Einordnung ihrer Schwere Punktwerte von 0 (keine Beschwerden) bis 3 (starke Beschwerden) zugeordnet. Den körperlichen Nebensymptomen werden zur Einordnung ihres Ausmaßes Punktwerte von 0 (keine Symptome) bis 3 (viele Symptome) zugeordnet. Für diese Schwere-Skala ergibt sich durch Zusammenrechnen der 4 Werte ein Endwert zwischen 0 und 12. Die Diagnose des Fibromyalgiesyndroms kann nach diesen Kriterien gestellt werden, wenn der WPI mindestens 7 und die Symptomschwere mindestens 5 ist, oder wenn der WPI zwischen 3 und 6 liegt, die Symptomschwere aber mindestens 9 beträgt.[16]
Die deutschen Behandlungsleitlinien stellen es frei, nach welchen Kriterien die Diagnose gestellt wird.[17]
Die Fibromyalgie wird in der International Classification of Sleep Disorders (ICSD-2, 2005) im Anhang A und in der Leitlinie „Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen“ bei den Schlafstörungen, die assoziiert mit andernorts klassifizierten Erkrankungen auftreten, aufgeführt, weil die Betroffenen wegen ihrer Beschwerden häufig zum Schlafmediziner überwiesen werden.
Bei der Störung des Schlafs handelt es sich um eine Folge der Grunderkrankung, die als Ursache der Schlafstörung erkannt und behandelt werden muss. Eine spezifische schlafmedizinische Diagnostik ist regelmäßig nicht erforderlich.
In Einzelfällen wurden Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen entsprechend dem irregulären Typ beschrieben.[18]
Die Fibromyalgie ist durch medizinische Maßnahmen nur begrenzt beeinflussbar. Grundsätzlich besteht die Gefahr des Medikamentenmissbrauchs, der Sucht sowie unabsehbarer Folgeschäden durch Dauermedikation mit diversen Schmerzmitteln.
Ein Behandlungskonzept ist heute die multimodale Schmerztherapie entsprechend den Erkenntnissen der modernen Schmerzforschung. Ziel der Maßnahmen sind hierbei die Erhaltung oder Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag und damit der Lebensqualität sowie die Minderung und/oder Linderung der Beschwerden. Da es sich um ein lebenslang bestehendes Beschwerdebild handeln kann, werden insbesondere Behandlungsmaßnahmen empfohlen, die von Betroffenen eigenständig durchgeführt werden können (Selbstmanagement), die keine oder nur geringe Nebenwirkungen haben und deren langfristige Wirksamkeit gesichert sein sollte. So umfasst das heutige Konzept meist eine Patientenschulung, den Einsatz von Medikamenten in Verbindung mit Sport- und Funktionstraining, physikalischen Therapien sowie Psychotherapie und Entspannungsmethoden.
Die größte Erfahrung besteht mit dem trizyklischen Antidepressivum Amitriptylin, das zeitlich befristet zur Therapie chronischer Schmerzen im Rahmen eines Gesamttherapiekonzeptes eingesetzt werden kann. Zusätzlich oder stattdessen werden nach neuesten Erkenntnissen die Antiepileptika Pregabalin und Gabapentin[19] oder das auch gegen den neuropathischen Schmerz wirksame Antidepressivum Duloxetin verwendet.[20] Aus der Gruppe der Antidepressiva werden auch noch häufig Fluoxetin oder Paroxetin eingesetzt.[21] Weitere einzelne, aber noch nicht vollkommen gesicherte Wirkungsnachweise gibt es aus der Gruppe der Antidepressiva für Sertralin, Moclobemid, Venlafaxin, Mirtazapin und Milnacipran. Letzteres hat in den USA sogar eine Zulassung für die Indikation Fibromyalgie erhalten, allerdings keine in Europa.[22] Für den Einsatz nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR) liegen keine Hinweise auf eine Wirksamkeit bei Fibromyalgie vor.[23]
Der Einsatz starker Opioide wird ebenfalls nicht empfohlen. Das schwache Opioid Tramadol hingegen wird in zwei aktuellen Leitlinien zur Schmerzreduktion empfohlen.[25]
Weitere Wirkungsnachweise gibt es für den Dopaminagonisten Pramipexol, das Neuroleptikum Olanzapin und intravenös verabreichtes Ketamin.
Das Herz-Kreislauf-System ist bei vielen Betroffenen nicht sehr leistungsfähig. Ein Herz-Kreislauf-Training, das vorsichtig über einen Zeitraum von Monaten gesteigert wird, kann bei einem Teil der Betroffenen Schmerzen und Müdigkeit reduzieren und die Lebensqualität verbessern. Empfohlene Ausdauersportarten sind Walking, Radfahren, Schwimmen und Aquajogging.
Auch ein Funktionstraining, bei dem bewegungstherapeutische Übungen in Trocken- und Wassergymnastik gezielt auf Muskeln und Gelenke wirken, verbessert bei einem Teil der Betroffenen die Situation.
Eine türkische Studie zeigte eine Wirkung des Stangerbades in Verbindung mit Amitriptylin. Im Vergleich zu Patienten, die allein mit Amitriptylin behandelt wurden, hatten die Patienten eine höhere Lebensqualität.[26] Wegen der begrenzten Anzahl an Studien wurde diese Kombinationstherapie in der aktuellen S3-Leitlinie weder befürwortet noch abgelehnt. Thermalbäder (Balneo-, Spa- oder Thalassotherapie) sollten dahingegen eingesetzt werden. Massagen werden nicht empfohlen.[27]
Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Meditation, Lachyoga und weitere Techniken der Stressbewältigung werden in Kombination mit aerobem Training empfohlen. Als alleinige Therapie sind diese Verfahren allerdings ungeeignet. Meditative Bewegungstherapien wie Taijiquan, Qigong und Yoga werden ebenfalls empfohlen.[27]
Wärmebehandlungen, wie z. B. die Naturfangoanwendung, aber auch warme Thermalbäder und Saunagänge werden häufig wegen ihrer schmerzlindernden Eigenschaften angewendet. Ein ähnlicher Effekt kann kurzzeitig durch eine Ganzkörperkältetherapie erzielt werden.
Während die Leitlinie in der Vergangenheit Akupunktur nicht empfohlen hat, kann gemäß der Ausgabe 2012 der „zeitlich befristete Einsatz“ erwogen werden. Es handelt sich um eine evidenzbasierte Empfehlung mit offenem Empfehlungsgrad. Grund war die methodische Qualität der zugrunde gelegten Studien und der Umstand, dass Nebenwirkungen kaum systematisch berücksichtigt wurden.
Verhaltenstherapie wird in der deutschen Leitlinie empfohlen. Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Entspannungsverfahren und therapeutisches Schreiben sollten in die psychologische Therapie eingebettet sein oder mit Bewegungstherapie kombiniert werden.[28]
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